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Als ich im Sommer 2002 von der Sektionsfahrt erfuhr, interessierte ich mich "natürlich" sofort für die "Hardcore-Variante". Die Tour sah in der Theorie und auf der Karte reizvoll aus: Donnerstag Nacht mit dem Bus nach Bramberg, Frühstück bei Bruno und dann mit dem Taxi bis fast zur Kürsinger Hütte. Am nächsten Tag zwar weit, aber flach über den Gletscher, eine nette 2er-Kletterei über den Grat auf die Hohe Fürlegg "und dann sind wir schon fast an der Neue Thüringer Hütte, nur noch ca. 2 Stunden bergab" (O-Ton Christian Polt). Eine Woche vorher: Beim Klettern und einem ungeplanten "Rückzug" knicke ich mit beiden Füßen um. Zwei Tage lang reklamieren die Knöchel, dann beruhigen sie sich. Zwei Tage vor Abfahrt nachts ½2: Wo ist mein DAV-Ausweis??? Eine Stunde später finde ich ihn dort, wo er hingehört. Donnerstag früh: Wegen Handwerkerei steht im Bad ein Koffer mit der Bohrmaschine, an dem ich mir fast erfolgreich versuche, die kleine Zehe zu brechen. Im Büro sitze ich mit dem Fuß im wassergefüllten Papierkorb und kühle. Fällt die Tour aus? Viel zu spät komme ich los. Noch vier Stunden bis Abfahrt, und ich muß noch schnell Lebensmittel für unterwegs einkaufen und Wanderkarten ausleihen. ½9 bin ich endlich zu Hause; in eineinhalb Stunden fährt der Bus. Zum Glück hab ich in der vorangegangenen Nacht schon alles zurechtgelegt. Jetzt muß "nur noch" gepackt werden. Und das erweist sich als Problem: Für die Hochtour brauche ich Pickel, Steigeisen und die festen Schuhe. Danach gehe ich für eine Woche klettern - noch ein Stapel Ausrüstung.

Als Abschluß des Urlaubs eine Woche Hüttenspringen - die leichten, bequemen Schuhe und Klettersteigset. Außerdem Lebensmittel für zwei Wochen. Mein Rucksack ist eindeutig um die Hälfte zu klein. Die ersten Teile verliere ich noch in der Wohnung. Also alles noch mal festzurren... Inzwischen ist es reichlich spät. Aber ein paar Minuten wird der Bus wohl warten. Oder auch nicht. 10 Minuten nach 22 Uhr steht er nicht mehr an der Katholischen Kirche. Ein paar Jugendliche bestätigen mir, daß da ganz viele Leute auch mit so großen Rucksäcken eingestiegen und weggefahren seien.Wenige Minuten stehe ich ganz belämmert da, dann ziehe ich noch einmal alle Riemen fest und gehe wieder nach Hause. Der Urlaub fängt halt doch erst drei Tage später direkt mit dem Klettern an. Gut für die Zehe. Aber ich kann den Anderen doch wenigstens eine schöne Fahrt wünschen. Ich wähle die einzige Handynummer, die ich von den Teilnehmern der Tour habe und - oh Wunder!: Thomas geht ran. Der Bus steht noch am Krankenhaus und ein Auto ist grad in der Stadt, sucht mich und holt mich drei Minuten später zu Hause ab. Mit erheblicher Verspätung beginnt nun die Fahrt. Wir machen es uns gemütlich, schwatzen, lachen. Zum großen Teil natürlich auf meine Kosten, aber daß Anita P. aus W. ihren Klettergurt vergessen hat, trägt auch zur allgemeinen Heiterkeit bei. Als mir dann noch eine mitleidige Seele ein Bier schenkt, ist die Welt in Ordnung und ich freue mich auf den Ausflug. Die Entscheidung, ob ich mit meiner Zehe die große Tour gehen kann oder wie die Mehrheit gleich am Freitag zur Thüringer Hütte laufe, wird auf ein Probetragen der Schuhe am nächsten Morgen vertagt. Der beginnt mit einem prächtigen Monduntergang hinter das Gebirge. Der Blick ins Tal zeigt einen einsamen Kirchturm, der aus der den Boden bedeckenden Wolkenschicht hervorlugt.

So fängt der Hochgebirgsurlaub mit äußerst eindrucksvollen Bildern an. Beeindruckend auch mein Gepäck, flächig neben dem Bus ausgebreitet: Was also brauche ich für die nächsten zwei Tage? Der "Rest" kann im Bus bleiben. Was sagt eigentlich meine Zehe zum Laufen? Einmal kurz in die festen Schuhe geschlüpft - es geht. Den Hüttenzustieg werde ich soweit wie möglich in Sandaletten gehen. Ich entscheide also definitiv für die lange Variante. Auf geht's.

Die Meisten nehmen ein Hüttentaxi ins Habachtal in Richtung Thüringer Hütte. Fünf "harte Kerle", darunter zwei Frauen, werden vom Bus noch ein Stück durchs Salzachtal nach Neukirchen gebracht. Anita kauft sich einen Klettergurt, ich mir eine Kopfbedeckung und jetzt geht's los. Mit dem Taxi oder zu Fuß? Wir müssen ein relativ langes Tal durchlaufen und außerdem ziemlich viele Höhenmeter. Man könnte sich den Weg vereinfachen und eine Strecke fahren. Aber 14 Euro pro Person? Und was wollen wir schon Mittags in der Hütte? Außerdem sind wir schließlich zum Wandern hier. Wir laufen. Raus aus dem Ort, rein in den Wald. Ein traumhafter kleiner See mit Moorlandschaft. Ende des Weges. Mitten durch die Heidelbeeren queren wir zur Schotterstraße zurück, die schließlich in einen Trampelpfad übergeht. Ausblicke nach unten lassen eine Schlucht erahnen, vorne oben sehen wir unsere Marschrichtung: hohe schneeige Berge. Uwe ist etwas schneller als alle anderen. Von ihm ist noch nicht mal mehr eine Staubwolke zu sehen. Der Anstieg durch den Wald endet an einer Hütte, an der der Flüssigkeits- und Kalorienhaushalt wieder reguliert wird.

Wenn Engel reisen, lacht der Himmel: Kaum eine Wolke, schönstes Hochgebirgs-Sommerwetter. Uwe drängelt: Hinter dem nächsten Berg könnte eine Gewitterwolke lauern... Die kommende Strecke ist recht mühsam: Schotterstraße und "Strecke-schrubben", ohne Höhe zu gewinnen. Ich fange an, müde vor mich hinzuschleichen und zu überlegen, warum wir nicht gefahren sind. Außerdem ist mein Rucksack viel zu schwer... Hinter der nächsten "Tankstelle" beginnt der Aufstieg. Die Straße endet am Lastenaufzug der Kürsinger Hütte. Gleichzeitig endet mein problemloses Laufen: Der linke Fuß erinnert sich an das Klettererlebnis der letzten Woche und beschließt, daß er jetzt genug hat. Aber ich nicht! Na ja, ich könnte ja umkehren und doch noch direkt die Thüringer Hütte ansteuern. Wäre vielleicht ganz sinnvoll. Aber jetzt gehe ich erst mal noch mit hoch zur Kürsinger Hütte und Morgen früh sehe ich weiter, wie es geht... Als "Abschluß" der Etappe kommt jetzt der eigentliche Aufstieg von ca. 1000 Höhenmetern. Uwe ist schon längst weg, wir anderen versuchen es mit Gemütlichkeit, sitzen immer mal, schwatzen, teilen die Würste untereinander auf und kommen auch nach oben. Die teilweise recht großen Gruppen - Großvenedigeraspiranten - die uns überholen, haben ihr Gepäck der Materialseilbahn anvertraut. Wir tragen. Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht: Quäl dich, du Sau.

Für das Abendbrot sind wir zu früh, Anita und Christian beschließen einen Nachmittagsschlaf, den Christian bis zum Frühstück ausdehnt. Der Hüttenwirt zu jedem einzelnem Gast: "Wieviel Gepäck hast Du? Fünf Kilo zu viel." Bei genauem Nachdenken fällt Jedem das eine oder andere Überflüssige ein - sei es der Regenschirm oder das ganze Brot. Am Morgen sind wir die letzten. Die Massen gingen, wie sich das für Hochtouren gehört, bei bzw. vor Sonnenaufgang los. 8 Uhr setzten auch wir uns in Bewegung - Schmerzen im Fuß werden ignoriert. Erste Pause: Umziehen und Materialanlegen am Eis. Hier eine Matheaufgabe für Fortgeschrittene: Wie verteilt man fünf Leute an 60 m Seil? Indem jeder das Seil irgendwo anfaßt und dann ein Stück geht, bis alle gleichmäßig verteilt sind. Um die Sache nicht zu einfach zu gestalten, empfiehlt sich eine Anordnung in einem ungleichmäßigen Stern. Und wenn man endlich eingebunden ist, kommt man an seinen Rucksack nicht mehr ran. Zuerst liefen wir auf der gut ausgetretenen Bahn Richtung Großvenediger. Ein etwas merkwürdiges Gefühl war es schon, als Christian dann abbog und über die unberührte Schneefläche spurte. Und das Loch neben uns war auch ganz beeindruckend. Mit Uwe diskutierte ich immer wieder (bis Anita etliche Stunden später entnervt protestiert) über Techniken: Laufen am gespannten Seil, Pickel in der bergseitigen Hand und vor allem die Liegestütztechnik. Meine feste Meinung war und ist, daß ich die aufgrund nichtvorhandenen Trainings in der entsprechenden Situation nicht anwenden kann. Eine kurzgedachte Orientierungspause motivierte uns zu ausgiebiger Fotographiererei, bei der zugegebenermaßen tolle Aufnahmen entstanden. Auf den Gruppenbildern sahen wir (noch) richtig entspannt und zufrieden aus. Die nächste Pause, nach einer doch beachtlichen Wegstrecke, ist am Beginn des Grates, der zur Hohen Fürlegg führt. Das Lächeln auf den Fotos wirkt jetzt schon mühsamer. Christian hing etwas schlaff in der Gegend. Wenn ich einen Hut aufgehabt hätte, würde ich ihn vor ihm gelupft haben: Er hat so ziemlich die ganze Strecke im weichen Schnee an der Spitze gespurt. Nun ja, jetzt kam die "gemütliche IIer-Kletterei", wie es der Alpenvereinsführer beschreibt: Geröll in jeglicher Größe, von Sandkorn- bis Kühlschrankgröße. Aber lose war alles. Egal wohin man trat - es bewegte sich doch. Die Griffe, an denen man sich festhalten wollte, blieben der Hand treu und lösten sich von ihrer bisherigen Umgebung. Worauf habe ich mich hier eingelassen?! Um die Tour noch etwas spannender zu machen, fing es dann an zu nieseln. Bekanntermaßen verbessert Nässe die Reibung zwischen Hand/Fuß und "Fels" nicht unbedingt, auch wird die Beweglichkeit durch Regenbekleidung nicht wirklich gesteigert. Positiv war der Blick auf die gegenüberliegenden Hänge, auf denen der Regen als eine weiße Puderzuckerschicht liegen blieb. Endlich erreichten wir das einzige Stück massiven Felsen am Berg. Es handelte sich um eine von Flechten besiedelte geneigte Platte - im feuchten Zustand eine ausgezeichnete Rutschbahn. Das war also unser Umkehrpunkt. 50 m weiter unten hatten wir beim Aufstieg einen seitlich wegführenden Pfad ignoriert. Schließlich sollten wir immer dem Grat folgen. Beim Gedanken an einen Abstieg durch diesen Schutt sank mein Stimmungsbarometer gegen Null. Nicht mit mir! Daraufhin hat Christian (nicht nur) mich ans Seil genommen und abgelassen. Die Querung erreichte den Ostgrat der Hohen Fürlegg nicht weit unter dem Gipfel. Doch den Grat zu betreten, war für mich das nächste Problem: Der Spagat von einem Felsblock auf einen anderen mit einem man wußte eben nicht wie tiefen Loch dazwischen gelang mir nicht, da mir 10 cm Reichweite bis zum nächsten Griff fehlten. Stimmung schon mitten im negativen Bereich. Eine hilfreiche Männerhand ließ mich dann doch drüberkommen. Pause.

Etwas Schokolade hätte mir helfen sollen, das Stimmungsbarometer zu heben, war jedoch von unzureichender Wirkung. Den Gipfel lassen wir links liegen, es ist zu spät. Immerhin ist die Hütte schon zu sehen und brauchen "nur noch bergab" zu gehen. Erst folgten wir dem Grat, dann ging es wirklich abwärts. Die Hangneigung wurde immer steiler, die Schneedecke immer dünner und meine Laune immer mieser. Wie wäre es mit Steigeisen? Brauchen wir nicht, geht doch so. Permanenter Wortwechsel zwischen Uwe und mir: "Wenn du rutschst, auf den Bauch drehen und Pickel einrammen." "Das schaffe ich in dem Moment nicht, das hab ich noch nie geübt." Meine Füße lernen inzwischen das Jodeln. Als es Christian gründlich die Füße wegzieht, ziehen wir endlich die Steigeisen an. Meiner Moral tun die schon gut, aber die Füße sagen etwas anderes. Es ist relativ steil (für mich zumindest), ich fühle mich gräßlich unsicher. Christian hat die Nase voll, bindet sich aus und rennt los bis zum nächsten Absatz. Ab hier geht es halb quer und halb runter. Man muß die Füße ekelig schräg aufsetzten. Sie tun mir mörderisch weh. Alle fünf Meter knicke ich um und falle. Das nach vorne straff gespannte Seil dient mir zeitweise zum Festhalten und zieht mich (Danke, Uwe!) Wenn ich mir doch nur den Knöchel brechen würde, könnte ich mich vom Hubschrauber abholen lassen! Irgendwann erreichen wir doch den Rand des Eises. Moralisch ging es mir schlagartig erheblich besser, auch wenn das kurze Sitzen zum Schlafen einlud. Als ich Steigeisen und Gamaschen auszog, entdeckte ich meine offenen Schnürsenkel. Das verbessert den Halt in Schuhen und Steigeisen nicht unbedingt. Viel Zeit konnten wir uns nicht nehmen zum umziehen: Sehr regelmäßig schmiß der Hang mit mehr oder weniger großen Steinen nach uns. Außerdem war es ziemlich spät. Da das Eis sehr weit abgeschmolzen war, saßen wir sehr weit oben am Hang. Jetzt suchten wir den Weg zur Hütte. Marschrichtung halb rechts runter. Mittlerweile dämmerte es. Der Nieselregen verdichtete sich. Toll - feuchter Gletscherschliff. Kleines rutschiges Geröll auf glatten Platten. Funktioniert so ein Kugellager? Irgendwann kamen wir nicht weiter. Ein nasser glitschiger Bach, unter uns eine Felsstufe. Aber Christian hatte Hammer und Haken dabei. Allerdings war es gar nicht so einfach, für den Haken eine Spalte zu finden. Es regnet jetzt richtig. So ein Seil ist eine ideale Wasserleitung, die ihre Fortsetzung im Jackenärmel findet. Inzwischen ist es schon ziemlich dunkel. Wer hat alles eine Taschenlampe mit? Uwe geht voraus, sucht den Weg und gibt immer mal Leuchtsignale.

Markierte Zeichen, der Weg! Hallelujah! Auf zum Endspurt. Mit Hilfe der Taschenlampen hangeln wir uns von einer Markierung zur nächsten. Das ständige Ausrutschen im nassen Gras stört schon gar nicht mehr. Wo ist die Hütte? Was sind das für Lichter? Deren Träger kommen uns entgegen, nehmen uns die Rucksäcke ab und begleiten uns die letzte halbe Stunde zur Hütte. Wir sind alle heil angekommen! Die Sorgen der auf uns Wartenden müssen doch beträchtlich gewesen sein: Erst erscheinen wir nicht schon am Mittag, sondern erst 16 Uhr auf dem Grat. Dann sind wir relativ langsam unterwegs. Später sind nur drei und nicht fünf Lichter zu sehen. Zeitweise bewegen sie sich nicht... Rührend sind sie alle um uns besorgt, Inge kocht sogar noch Nudeln. Eigentlich ist mir ja nicht nach Essen, aber nach so einer Tour sollte man ja wohl. Kaum stehen sie vor mir, schiebe ich sie weit weg uns setzte mich ans entgegengesetzte Ende der Tafel. Aber auch das reicht nicht. Ich muß raus und "mit Ulf telefonieren". Diesen Grad von Erschöpfung hatte ich wirklich vorher noch nie erreicht. Am nächsten Morgen ein müdes Schleichen ins Tal. Am Bus sortiere ich mal wieder Ausrüstung und in Kitzbühl steige ich dann in den Zug, der mich zum nächsten Urlaubsabschnitt bringt. Fazit: Was ist Masochismus? Untrainiert, mit minimalster, langherliegender Eiserfahrung, schlecht sitzenden Schuhen und schon vorher angeschlagenen Füßen auf Hochtour zu gehen.

Aber schön war's. Und was machen wir in diesem Sommer?